Illustrierte Frauenzeitung
Noch vor wenigen Jahren wäre es beinahe undenkbar gewesen, daß ein junger Dichter als Erstlingswerk einen Band Gedichte bot. Es mußte eine Novelle oder ein Roman sein, – Publikum und Verleger verlangten das, und er selbst war fest davon überzeugt, daß Gedichte niemand lesen würde, wenn er sich mit ihnen an die Öffentlichkeit wagte. Das ist früher anders gewesen, und es scheint wieder anders zu werden; die schöne Litteratur hat eben auch ihre Moden, und Moden kehren bekanntlich immer wieder. Es wäre sicher für die Litteratur kein Schaden, wenn die Mode von neuem verlangte, daß man sich durch ein Bändchen Lyrik legitimiert, ehe man seine Dichterwerkstatt aufthut; so eine Art Zunftzwang für diejenigen, die das Dichten als Handwerk betreiben wollten, der vielleicht dazu beitragen würde, die fabrikmäßige Herstellung von Romanen, welche jetzt den litterarischen Markt beherrscht, einzuschränken. Diese neue litterarische Mode geht, was sicher für sie spricht, von den deutschen Universitäten aus. Zuerst Göttingenn und dann Berlin haben den Anfang mit ihrgemacht, und in den von den Musensöhnen dieser Hochschulen in den letzten Jahren herausgegebenen Dichter-Almanachen keimte manches frische Talent. Mehr als Keime wird man in Jugendgedichten kaum jemals entdecken können, – was sich aus ihnen entwickelt, muß die Zukunft lehren. Für das Publikum aber wäre es ein günstiges Zeichen, wenn es an jugendfrisch sprudelnden Empfindungen wieder Anteil nähme und nicht nur die Erzeugnisse der Routine seiner Aufmerksamkeit würdigte. Ein solches Talkent zeigt sich in den "Gedichten" von Börries von Münchhausen, am stärksten hervortretend in dem hübsch ausgestatteten Band einleitenden Balladen und historischen Stimmungsbildern. Da findet sich in knapper Form eine seltene Kraft des Ausdrucks, die viel erwarten läßt, große Anschaulichkeit der Vorgänge und oft grandiose poetrische Bilder.
Ein Seesturm:
"Die Nordlandfee wird leichenpfahl und kräuselt die weißen Lippen
und schlägt mit der nassen Riesenfaust wild gegen die Otteröklippen!" –
Das ist in Klang, Farbe, Stimmung und Wirkung eines dieser poetischen Bilder, die den Verfasser überzeugend als Dichter legitimieren. Unter den lyrischen Gedichten sind einzelne, auf die Börries von Münchhausen vielleicht selbst nach Jahren keinen großen Wert mehr legen wird. Aber die große Mehrzahl fesselt den Leser durch die Wahrheit der Empfindung, durch den ernsten oder heiteren Gedankengehalt und durch die Freude an der Natur, die in ihnen zum Ausdruck kommen. — Gedichte, 1897
vom 1. März 1897 von P. v. Szczepanski
Illustrierte Frauenzeitung
Quelle: aus den Werbeseiten des »Göttinger Musenalmanach für 1898«, 1897
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