Der Rückzug
1. Die Vorhut, 2. Beim Troß, 3. Nach Oschmjany, 4. Moskau
Die Ballade stammt aus dem Gedichtband : Börries, Freiherrn von Münchhausen - Die Standarte – Balladen und Lieder, 1916 — 1. Tausend, Egon Fleischel & Co., Berlin
Westwärts wanderten finstere Scharen
über die Düna, über den Don, —
ach, einst waren
sie zu der Pauken Geschütter g e r i t t e n
über die Düna, über den Don !
Finstere Scharen, die furchtbar litten. —
Über die Felder, über das Eis
folgten sie müde den Striemen der Schlitten,
eingepeitscht in das Fleisch der Fluren,
eingeknutet in Schnee und Eis.
Nordwind verwehte die spärlichen Spuren
über die Steppen und Sümpfe und Seen,
starrende Winternacht fiel auf Masuren, —
weglose Scharen des korsischen Kaisers
stolpern . . . und stocken . . . und stehn . . .
Nacht. Sie kauern in Gram und Grauen,
Troß und Soldaten zusammengedrängt,
verwilderte Männer, verwüstete Frauen,
Eis in den Bärten, Eis in den Brauen,
salzige Tränen von Eis in den Wimpern,
drüber der Schlaf sich senkt.
Dort nur am Feuer, verirrt und verloren,
hocken noch Hungernde. Am Feuer sengt
faulendes Leder unter den Sporen
am Stiefel des greisen Sergeanten. Der trinkt
Schmelzschnee aus dem Helme.
Im Kessel der Pferdekadaver stinkt . . .
Wie lange schon stumm der Weiber Stimmen,
die doch so lüstern einst lachten,
in den düsteren Augen der Männer glimmen
die Biwakfeuer verlorener Schlachten.
Wie lange schon, daß in Groll und Grauen
Soldaten beten um ihren Tod !
Und die süßen Lippen der Frauen
wurden lange schon bitter in Hunger und Not.
Wie lange s c h o n ! Und schlimmer doch :
Wie lange n o c h !
Ein einziges ödes ungeheures Feld,
gelb überflackert von dem Riesenbrande,
der lautlos hinter ihnen im nächtigen Lande
den Himmel hoch und weit die weiße Welt
erhellt.
Wer sprach die irren Worte aus, die nun
auf Tausenden von frostigblauen Lippen
bang wie der Litanei „Erbarme dich !”
In immer wiederholter Hoffnung ruhn :
„Nach Oschmjany !” ?
Kein Laut ringsum.
Die Tausende, sie ziehen schauerlich,
schauerlich stumm.
Die Straße finden sie nach den Rippen
zerschossener Kanonenräder,
nach den gekrallten Händen, die aus Schnee
zu beiden Seiten
fürchterlich auf zum Himmel drohn
in wüster Klage und in grellem Hohn,
als ließen s i e sich nicht vom Schnee
zudecken, wie die stummgewordnenen Münder,
die der dort oben wie Kinder
mit weißem Zuckerwerke stumm gemacht,
als seine Flocken schneiten ! —
„Nach Oschmjany !”
Kein Laut in Lüften und auf Erden,
nur daß von ihrem Zug
ein Knirschen weit die Nacht durchirrt
vom Schnee, der unter müden Sohlen knirrt,
und wie der Rauch über den späten Herden,
die Winterabends sich zum Stalle ziehn,
steht über dem breiten Zug
der Atem Aller wie ein Baldachin. —
„Nach Oschmjany !”
Ein Offizier: „Was wollt ihr mit dem Wort !?
Wir hielten Beiwacht dort vor sieben Wochen, —
weißt du nicht, wie dein letztes Brot verbrannt,
durch das den Säbel du gestochen,
ums überm Feuer aufzutaun ?
Plärrt doch nicht von dem fernen kleinen Ort !”
Umsonst – die Scharen stammeln hirnverbrannt :
„Nach Oschmjany !”
Sie taumeln weiter durch die gelbe Nacht,
und Moskaus Brand wirft lange Lichter
auf dieses weite grauenvolle Land
und auf die nächtigen Gesichter,
darin die Bärte verbrannt,
und Augen glühen, wirr und überwacht, —
„Nach Oschmjany !”
Aus leeren Fensterlöchern kräuselt Rauch
und friert sich zitternd am ausgebrannten Turm hinauf.
Kein Dach mehr rings, — Mauern und sinnlose Stufen . . .
Die tote Stadt liegt blaß mit offnem Maul,
wie ein vergessner Toter in den Schützen-Nestern
des Schlachtfeldes von gestern. —
Am Gossenrand ein Gaul
mit aufgetriebenem Bauch
und steifen, starrenden Hufen . . .
Am zackig aufgeborstnen Flintenlauf,
der gestern noch dem Feinde dräute,
weht achtlos schon der Wirbelschnee von heute.
und der die Flinte trug,
schlug
langhin im rotzerwühlten Schnee,
sein Kopf hängt in des Kellers Luke nieder,
und grell verzerrt in Wut und Weh
lauscht noch der Leichnam, ob denn noch nicht alles
zermalmt in dieses Riesenfalles
Schüssen und Feuern, Mord und Brand,
ob denn n o c h Leben in dem toten Land !
Aus dem brunnentiefen Keller
klingt
ein verstohlenes Klirren, — Glas und Teller, —
und zupft die Balalaika
eines greisen Kindes Hand,
zirpt die Balalaika
durch Verwesung, Rauch und Brand, —
eine Stimme singt :
„Komm, Maruschka, tanze !
Ist verbrannt dein Sarafan,
hast du noch das Hemde an,
drum, Maruschka, tanze !
Komm, Maruschka, trinke !
Stahl der Frank den Samowar,
schenkt uns Schnaps der weiße Zar,
drum, Maruschka, trinke !”
Aus leeren Fensterlöchern kräuselt Rauch —
Worte : 1912 Börries, Freiherr von Münchhausen (1874 - 1945)
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Jürgen Sesselmann (mayer)
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